Die Instinktivitäts-Rationalitäts-Skala

Die Position auf der Instinktivitäts-Rationalitäts-Skala als Persönlichkeitsmerkmal


Ich habe sehr viel über Evolutionsbiologie und Evolutionspsychologie gelesen und beides bildet seidem die Grundlage meines Weltbildes.   Als ich jünger war, habe ich viele Verhaltensweisen von Männern lästig und unbegreiflich erlebt. Meine Bedürfnisse allgemein und an eine Partnerschaft waren immer deutlich anders als bei den mehr durchschnittlichen Frauen.   
Aber erst die Beschäftigung mit der Evolutionsbiologie hat mir zu der Erkenntnis verholfen, daß sehr viele Verhaltensweisen anderer Menschen, die ich als dumm, irrational und bedrohlich wahrnehme, zwar für die Arterhaltung förderlich sind, aber dem Wohlergehen individueller Menschen im Wege stehen.   Dieser Widerspruch ist die Ursache von sehr viel Leiden.
   

Menschen unterscheiden sich grundlegend von Tieren, wenn man die Fähigkeit der Voraussicht unter Einbezug von großen Mengen an Gedächtnisinhalten betrachtet. Nur wer in der Lage ist, langfristige unerwünschte Konsequenzen seines Verhaltens vermeiden zu wollen, hat einen Grund zur Selbstkontrolle.   

Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß die meisten Säugetiere beim Werfen der Jungtiere große Schmerzen erleiden.   Aber selbst Affen sind höchstwahrscheinlich völlig unfähgi, den Zusammenhang zu begreifen, daß sie für die instinktausgelöste Kopulation später mit dem Erleiden der Geburt bestraft werden.  Also sind sie auch nicht in der Lage, aus den einmal erlittene Qualen zu lernen, wie sie diese für die Zukunft vermeiden können.   
Nur der Mensch hat die Fähigkeit, instinktive Antriebe kritisch zu bewerten und sich bei drohenden Konsequenzen bewußt für rechtzeitige Selbstkontrolle und gegen instinkthaftes Verhalten zu entscheiden.  Nur der Verstand des Menschen reicht dazu, sich gegen die Fortpflanzung zu entscheiden.

Seit einigen Millionen Jahren hat die Evolution des Menschen den Sonderweg genommen, daß nur die Spezies Homo Sapiens so weitgehende kognitive Fähigkeiten entwickelt hat, daß damit die automatische Macht der Instinkte über das Verhalten geschwächt und die Auswirkungen verändert wurden.   

Da jedoch bei völligem Verschwinden der Instinkte die Spezies ausgestorben wäre, hat sich stattdessen eine instabile Balance aus drei Kräften entwickelt.    Diese drei Kräfte sind auf der einen Seite die Instinkthaftigkeit, auf der anderen das Zusammenspiel von rationaler Voraussicht und der Befähigung zur Selbstkontrolle.  Das bedeutet, daß ein bestimmtes rationales Verhalten sowohl dann möglich ist, wenn die Instinkthaftigkeit zu anderem Verhalten nur schwach ausgeprägt ist, als auch dann, wenn die Selbstkontrolle noch stärker ist als der instinktive Drang.   


Diese Balance ist individuell verschieden, ich betrachte sie als ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal. Ich gehe davon aus, daß as Ausmaß der Instinkthaftigkeit des Verhaltens in der Form einer Glockenkurve verteilt ist, ähnlich wie die Intelligenz.  
Die beiden Extreme dieser I(nstinktivitäts)-R(ationalitäts)-Skala gibt gibt es zwar nicht in Reinform, und die Mehrheit findet sich irgendwo im mittleren Bereich. 

Dennoch lassen sich die beiden Extreme der Skala idealtypisch beschreiben:
Am einen Ende sind diejenigen, die sich im Grunde in ihrem Verhalten nicht von Tieren unterscheiden.   Insoweit sie sich Gedanken machen, erleben sie sich selbst als Teile eines größeren Ganzen, als ein Genträger in einer ewigen Abfolge, als Partikel.    Sie identifizieren sich mit den Qualitäten ihrer Körper.   Sie sehen die Fortpflanzung als ihren Lebenssinn, als eine Verpflichtung, durch die sie auch jegliche Form des Raffens von Ressourcen für den eigenen Nachwuchs als gerechtfertigt ansehen.  Der Hierarchieinstinkt treibt sie zu Konkurrenzkämpfen, der Ingroup-Outgroup-Instinkt zur Ausbeutung von Fremden.  Dadurch wird großes Leid verursacht, aber das wird als unvermeidlich hingenommen.  
Am anderen Ende der Skala sind die völlig rationalen Menschen. Sie erleben und definieren sich selbst als Individuen und sie identifizieren sich mit ihren kognitiven Fähigkeiten.  Sie betrachten ihren Körper als die notwendige Trägersubstanz für ihr Gehirn.  Opfer dafür zu bringen, daß ihre Gene weiterexistieren, erscheint ihnen unsinnig.   Sie sind nicht völlig ohne Instinkte, denn die sorgen auch dafür, daß der Körper mit Sauerstoff und Nahrung versorgt wird.   Aber die Instinkte sind nicht stark genug für so eklatant selbstschädigendes Verhalten wie die Fortpflanzung.  

Je nach Blickwinkel kann man sie bzw. uns, da ich auch dazugehöre, als diejenigen ansehen, bei denen die Evolution der spezifisch menschlichen Eigenschaften am weitesten fortgeschritten ist, oder als Mutanten und Fehlentwicklungen.

Ich bin bei weitem nicht der einzige gehirnorientierte und kopfgesteuerte Mensch.  Für mich ist es ein Teil meiner Identität und meines Selbstbewußtseins, daß ich rational, gehirnorientiert und kopfgesteuert bin und trotzdem auch starke Gefühle zu haben.  Ich möchte weder irrational noch instinktgetrieben sein.   Ich habe deshalb nicht den Wunsch, so zu sein wie die Mehrheit.  Aber ich habe manchmal schon sehr das Gefühl, auf dem falschen Planeten gelandet zu sein.  Ich wünsche mir und ich suche einen Partner, der so ähnlich ist wie ich, und ich würde auch gerne allgemein mehr Menschen kennen, mit denen mich Ähnlichkeit verbindet.  Dann kann mir die ganze instinktgesteuerte Welt egal sein.  


Leider aber messen und vergleichen sich viele Menschen, die rational und kopfgesteuert oder in anderen Bereichen nicht wie die Mehrheit sind, mit dem Mittelmaß und der sozialen Norm.  Sie nehmen sich als Außenseiter oder gar als defizitär wahr und wären gerne wie die anderen.  
Entweder unterliegen sie mehr oder minder stark dem Anpassungsdruck.  Sie imitieren Verhalten, das ihnen eigentlich wesensfremd ist.   

Oder aber sie suchen nach einem Etikett, das sie dann mit einer Portion Trotz zur Abgrenzung benutzen.   Ein Etikett macht dann aus dem passiven Ausgeschlossensein eine aktive Gruppenzugehörigkeit zu einer Gruppe, die dieses Andersseins gewählt hat.   
Zwei solche Etiketten sind demisexuell und sapiosexuell mit entsprechenden Gruppen und Diskussionsforen.   Für mich sind diese Etiketten nur andere Begriffe für das Befinden und Verhalten von gehirnorientierten und kopfgesteuerten Menschen. 

Aber die Wahl der Begriffe ist unwichtig.   Das entscheidende ist für mich, daß ich eine unterdurchschnittliche Instinktivität nicht als ein Defizit betrachte, sondern im Gegenteil als eine positive Eigenschaft, mit der man sich als Gewinner bei der Lotterie der Gene fühlen kann.